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Martin Peichl – Nach der Landung

Beim IKEA-Kasten-Zusammenschrauben und Zusammenhämmern und
Aufstellen darüber nachgedacht, warum ich keine Kinder will, eine
Liste erstellt mit Namen, die ich meinen nicht vorhandenen Kindern
auf keinen Fall geben würde, eine lange Liste, während ich mit dem
Hammer die Nägel ins Holz treibe, während ich mit dem
Schraubenzieher in der einen und einer halbleeren Bierdose in der
anderen Hand beim Fenster rausschaue, schon wieder Regen, und ich
frage mich, wann ich angefangen habe, aus dem Fenster zu schauen,
über 30 Jahre lang war ich kein Aus-dem-Fenster-Schauer und jetzt
fange ich auf einmal an damit, habe nie verstanden, warum mein Vater
in der Nacht oft lange am Fenster gestanden ist, was er da gesucht
hat, will ich wissen.
 
Ich mache mir ein neues Bier auf, ich baue die Schubladen zusammen,
schraube sie in den Kasten hinein, fluche, weil mir die Schrauben
aus den Fingern rutschen, mehr Schubladen für die Dinge, die sich
angesammelt haben, die irgendwann in meinen Besitz gewandert sind,
finde beim Herumräumen ein Foto, das du mir geschenkt hast, ein Foto
der Kosmonautin Walentina Tereschkowa, die erste Frau im Weltraum,
die einzige Frau in der Raumfahrtgeschichte, die alleine und ohne
männliche Begleitung geflogen ist, zwei Tage, 22 Stunden und 50
Minuten. Ihr Funkrufname: Möwe. Eine Möwe im Weltraum, hast du auf
die Rückseite des Fotos geschrieben.
 
Es gibt hartnäckige Gerüchte, dass sie bei der Landung das
Bewusstsein verloren habe, dass sie ins Krankenhaus gebracht worden
sei, dass am Tag darauf die Szene nach der Landung fürs Fernsehen
nachgespielt worden sei, Gerüchte, die wahrscheinlich ihre
männlichen Kollegen in die Welt gesetzt haben. Mittlerweile hat man
einen kleinen Krater auf der Mondrückseite nach ihr benannt.
 
Von meiner Mondsucht habe ich dir schon erzählt, dass ich als Kind
mondsüchtig war, dass mein Vater dann mit mir am Fenster gestanden
ist, wenn ich nicht schlafen konnte, dass er dann mit mir gewartet
hat, bis der Mond zwischen den Wolken aufgetaucht ist, dass er
solange dort mit mir am Fenster gestanden ist, bis ich wieder
eingeschlafen bin, in seinen Armen. Ich nehme einen Schluck Bier,
draußen wird es schon dunkel, vielleicht schaue ich mittlerweile aus
wie mein Vater, denke ich, als ich meine Reflexion in der Balkontür
sehe, und dabei zuschaue, wie das Bier durch mich hindurchrinnt.
 
Ich räume das Werkzeug weg, ich frage mich, ob dein Esstisch noch
immer kaputt ist, der Tisch, den wir gemeinsam beim Sex ruiniert
haben, will wissen, ob einer deiner Freunde ihn repariert hat in der
Zwischenzeit, damit du wieder Sex haben kannst auf ihm, will dir
schreiben, dass ich mir eine Flasche Holzleim gekauft habe, dass ich
meine Brettspielsammlung aufgelöst habe, dass ich nicht mehr 300,
sondern nur mehr 100 Spiele besitze, dass ich nicht mehr so viel
trinke und endlich weiß, wie man Dinge repariert.
 
Ich nehme das Foto von Walentina Tereschkowa, ich hänge es über
meinen Schreibtisch, neben die Mayröcker-Zeichnung, die ich aus
einem Buch gerissen habe, kann seit Tagen nur mehr Mayröcker lesen,
da ist diese eigenartige schmerzliche Fremdheit, ein paar Sätze
Mayröcker, um mich zu beruhigen, eine Erinnerung an einmal möglich
Gewesenes und nun ganz unmöglich Gewordenes, aber sie beruhigen mich
heute nicht, die Sätze, wenn der begehrende Körper aufgehört hat für
den anderen zu existieren, kein Satz, der mich beruhigt.
 
Am Todestag meines Vaters, ich weiß, du hast an mich gedacht, wollte
ich dich fragen, ob ich bei dir schlafen kann, aber du warst
irgendwo in den Bergen, meine Nachricht hat dich wahrscheinlich erst
erreicht, als du wieder im Tal warst. Die letzten Tage im August hat
es nur geregnet. Die letzten Augusttage habe ich dir geschenkt wie
einen Blumenstock, den schon lange niemand mehr gegossen hat, ich
weiß: du hast an mich gedacht.
 
Ich zerdrücke die Bierdose und werfe sie in den Müllsack zu den
anderen leeren Dosen. Seit mein Vater nicht mehr lebt, ist nie genug
Luft in den Reifen meines Fahrrades, seit mein Vater nicht mehr
lebt, fahre ich regelmäßig zum Baumarkt, dann stehe ich stundenlang
vor dem Regal mit den Hämmern, auf der Suche nach dem richtigen
Modell, dann kaufe ich Nägel und Schrauben, der Werkzeugkasten geht
längst über. Ein Weggehen, das man nicht bemerkt, das ist das
schlimmste Weggehen, hast du einmal gesagt, vielleicht erinnere ich
mich auch falsch, wahrscheinlich. Ein Weggehen, das man nicht
bemerkt.
 

Ich setze mich auf den Balkon, kein Bier mehr im Kühlschrank, kein
Mond am Nachthimmel. Es gibt Geschichten, dass Walentina Tereschkowa
mit Raumkrankheit zu kämpfen hatte und oft stundenlang nicht auf
Funkrufe der Bodenkontrolle reagierte, dass sie in kürzester Zeit
alle ihr auf den Flug mitgegebenen Bleistifte zerbrochen hatte und
deshalb keine Aufzeichnungen anfertigen konnte. Parallel umkreiste
ein zweiter Kosmonaut die Erde, ich habe seinen Namen vergessen,
seine Umlaufbahn war aber zu niedrig, kein Sichtkontakt zwischen den
beiden und nur eingeschränkter Funkverkehr.
 
Ich habe das Herzzerreißende der Dinge verlegt, will ich dir
schreiben, dass ich überhaupt nicht mehr in mir selber sein kann,
vielleicht habe ich es auch bei dir vergessen, bei meinem letzten
Besuch, ich habe einem merkwürdigen Verlangen nachgegeben,
wahrscheinlich, was machst du mit dem Herzzerreißenden der Dinge,
mit meinem Herzzerreißenden der Dinge, will ich wissen, die quälende
Unzulänglichkeit der Umstände, ich kann nicht schlafen, wenn es
regnet, den ganzen September schon, wir schwimmen alle in so vielen
Gedächtnissen, will ich dir schreiben, meine Sprache: verkleidet.
 
Ich werde den Herbst nutzen und mir einen neuen Funkrufnamen
überlegen für dich, ich werde dir einen Orden basteln, vielleicht
hast du mir bis Weihnachten verziehen, dann schicke ich dir ein Foto
von den Schneehaufen neben der Einfahrt, von den Schneehaufen, aus
denen ich als Kind ganze Mondlandschaften gebaut habe. Zu
Weihnachten schenke ich dir einen Spieleabend, und wer gewinnt, darf
sich aussuchen, welche Stellung und wie lange, dann spielen wir die
ganze Nacht, dass wir gut verlieren können, dann spielen wir, dass
wir nie weg gewesen sind, dass wir wissen, wie Bleiben funktioniert,
und ich wühle in deinem Kleiderkasten und du ziehst für jedes Spiel
ein anderes Kleid an, ziehst die Strümpfe an, die ich dir gekauft
habe, die ich dir zerreißen werde, während das Holz aus dem Leim
geht, aus dem Leim rutscht und wieder hinein.