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Detlef Seidel – Linie 73

Else und Charlotte sind am Alexanderplatz in die Linie 73
eingestiegen. Die hält auch am Haus Prenzlauer Allee 88.
Dort werden die beiden gleich erschrocken aussteigen.
Sie waren tanzen in den „Weinterrassen Friedrichstraße“ und
hätten die 71 nach Weißensee nehmen sollen, zum
Schwesternhaus des Städtischen Krankenhauses.
Es ist Freitag, der 27. Dezember 1940, kurz nach 23 Uhr und
wenig Licht in den Straßen.
 
Else Kley war damals 26 Jahre alt, geboren am Hunsrück.
Charlotte Gurt, 21, stammt aus Pniewy bei Posen .
So steht es in der Kriminalakte, die im Landesarchiv Berlin aufbewahrt
wird.
 
Schräg hinter den Krankenschwestern sitzt Polizeireservist
Ottmann und neben ihm Gefreiter Höher.
 
Ottmann, 32, Mitglied der NSDAP, im Kommando der Schutzpolizei
Berlin, momentan bei der Staffel Danzig in Dienst, hat Urlaub bis zum 2.
Januar. Höher, sieben Jahre jünger, Infanterie Regiment 50 in
Fallingbostel, macht Urlaub in Berlin.
 
Ottmann und Höher waren zum Schwofen in „Mundts Ball-
Saal“.
Ottmann sieht gut aus in seiner Uniform – vertrauenswürdig.
Das weiß er. Das spiegelt sich in Gesicht und Gestik.
Nun sitzen die beiden in derselben Linie 73 wie die zwei
Krankenschwestern. Und Ottmann schmiedet Pläne, in denen
die Frauen eine Rolle spielen.
Bald wird er aussteigen, weil das Haus erreicht ist, in dem noch
ein Zimmer für ihn reserviert ist, in der Wohnung seiner Mutter,
in der sie mit ihrer ältesten Tochter lebt.
Als die vier in der Kälte stehen, glaubt Ottmann aus dem Gerede
der Frauen etwas wie „falsche Linie“ herauszuhören.
Ottmann bietet Hilfe an.
Die Ältere reagiert: „Wir müssen nach Weißensee.“ Ottmann
sagt: „Von hier zur 71 ist wie von Afrika zum Nordpol.“
Charlotte jammert, ihre Oberin sei streng.
Höher tritt von einem Bein aufs andere, um nicht anzufrieren.
„Kommt“, Ottmann zeigt zum dritten Stock, „es gibt warmen
Kaffee. Und auch Kuchen.“
Die Frauen sehen sich an. Charlotte will nicht. Else blickt auf
Ottmanns Polizeiuniform und hakt Charlotte unter.
Sie schlurfen über die Straße, den Männern nach. Im Hausflur
springt das Licht nicht an. Erst im zweiten Stock brennt es.
Am Türrahmen liest Else, bei wem sie gleich Kaffeetrinken wird:
„Dr. Ottmann“. Sie weiß nicht, dass das der vor Jahren
verstorbene Vater ist, ein Jurist und Privatgelehrter.
 
Charlotte will ihren Mantel nicht ablegen, obwohl sie sieht, dass
ein Damenmantel an der Garderobe hängt.
Alle vier gehen in die Küche. Ottmann stellt den Wasserkessel
auf den Gasherd und dreht die Kaffeemühle. Sofort riecht es gut.
Else und Höher sollen das Geschirr in die Stube tragen.
Höher geht voraus, Ottmann hat ihm die Türen abgezählt und
sagt: „Mutter und Schwester schlafen nebenan.“
Daraufhin legt Charlotte ihren Mantel ab und setzt sich neben
die Kaffeemühle.
 
Die Deckenlampe ist eingeschaltet, als Else in die Stube tritt.
Es riecht nach Tanne.
Der Gefreite setzt sich breitbeinig auf das Sofa. Geredet wird
nicht. Da können beide den Schrei, der sich wie „Lass mich los“
anhört, kaum überhören. Das muss Charlotte gewesen sein. Else
lässt sich verdutzt neben Höher aufs Sofa fallen.
 
Bald darauf kommt Charlotte in die Stube, die Kaffeekanne in
der Hand. Hinter ihr Ottmann. Er balanciert ein Silbertablett mit
einer Sahnetorte drauf.
Charlotte stellt wackelig die Kanne ab. Sie blickt Else seltsam an.
Ottmann tritt an den großen Weihnachtsbaum.
Er dreht an einer Kerze. Sofort steht der Baum in elektrischen
Flammen.
„Das große Licht kann nun wohl“, sagt Ottmann und schaltet
die Deckenlampe aus.
Nun löffeln alle über ihr Tortenstück gebeugt. Else gießt Kaffee
in die Tassen. Es wird gekaut, getrunken und kaum geredet.
Ottmann und Charlotte sitzen in Sesseln, Else mit dem
Gefreiten auf dem Schisselong, wie Else das Sofa nennt. Bei
Schisselong löst sich Charlottes Miene etwas.
Ottmann holt Sekt und vier Gläser. „Weil Weihnachten ist“, sagt
er. Charlotte hält ihre Hand übers Glas. „Auf eine gemütliche
Nacht!“ sagt Ottmann. „Auf gemütliche Nacht!“ sagt der
Gefreite.
Charlotte sagt: „Wie kommen wir nur nach Weißensee?“
Ottmann sagt, es sei Platz für alle. Charlotte verdreht die Augen.
Aber dann denkt sie an den Damenmantel an der Garderobe.
 
Ottmann legt Tanzmusik aufs Grammophon und will Charlotte
zeigen, wie er tanzen kann. Die sträubt sich; aber Else ermuntert
sie auch diesmal.
Ottmann fasst Charlotte um die Hüfte. Sie drehen sich zwischen
Esstisch und Weihnachtsbaum.
Da schert Ottmann aus und greift in die Tanne. Sofort ist alles
schwarz.
 
3. Mai 1940: Das Reichsluftfahrtministerium ordnet eine einheitliche und
allgemeine Verdunkelung für ganz Deutschland zwischen
Sonnenuntergang und -aufgang an. Die Anordnung wird von den
Ottmanns seit Wochen gewissenhaft befolgt.
 
Höher versucht Else zu küssen. Ottmann hat mehr vor. Er biegt
Charlotte zu Boden und macht sich an ihren Beinen zu schaffen.
Er ist schon bei den Oberschenkeln. Charlotte will sich am Tisch
hochziehen, ruft „Else helf mir“ und „jetzt will er mich
vergewaltigen.“
Else kann nicht helfen, der Gefreite hält sie. Sie jammert „Wo
sind wir hineingeraten“.
Plötzlich brennt das Deckenlicht. Der Polizeireservist kniet wie
benebelt am Boden, Charlotte steht zerrissen an der Stubentür.
 
„Ich will aufs Klo!“ ruft Else, springt auf und drängt zur Tür.
Ottmann ist gleich hinter ihr. Er schiebt sie durch den dunklen
Korridor, hin zur zweitletzten Tür rechts. Vom Toilettenzimmer
ist ein kleiner Teil für die Speisekammer abgezwackt. Toilette
und Kammer teilen sich ein Fenster.
Er schiebt Else in sein Zimmer. Das liegt unmittelbar vor dem
Klo.
Ottmann schließt ab und knipst das Licht aus. Else ist gelähmt.
Sie kann sich nicht mehr orientieren. Ottmann macht sich ruppig
an ihr zu schaffen. Er schnaubt wortlos.
 
In der Stube hockt Höher unbeweglich da, Charlotte lauscht in
den Flur hinaus. Sie meint einen Schrei zu hören. Sie will raus,
eilt zur Eingangstür, wirft die Kette, die die Tür versperrt,
zurück und stürzt die Treppen runter. Fast schon unten, hört sie
einen dumpfen Schlag vom Hof her.
Sie friert, springt hoch, ihren Mantel holen und danach die
Haustreppen wieder runter.
 
Unten macht sich Ottmann an dem Bündel Mensch zu schaffen.
Er schleift es durch den Gang zur Straße hin. Und Charlotte hilft
mit. Sie versucht dem, was von Else noch ist, das Schleifen
erträglich zu machen. „Else, was hat man mit dir gemacht?“ Else
reagiert noch: „Charlotte, das sind ja Verbrecher.“
Ottmann hechelt, die habe sich aus dem Toilettenfenster
gestürzt.
 
Das wird er auch im Verhör behaupten. Man wird ihm nicht glauben
und ihm die Unmöglichkeit vorführen, sich durch ein 20 Zentimeter
breites Fenster zu quetschen.
 
Die Prenzlauer Allee ist reglos wie eine Dorfstraße.
Sie legen Else auf das kalte Trottoir. Charlotte legt ihren Mantel
darunter. Ottmann ruft vom Telefonhäuschen die
Feuerschutzpolizei an.
 
Der Rettungswagen bringt Else ins Horst-Wessel-Krankenhaus.
 
Gegen 2 Uhr ist Charlotte am Tor vom Städtischen
Krankenhaus Weißensee. Sie ist den ganzen Weg gelaufen.
An der Wachhabenden schleicht sie vorbei und legt sich ins Bett.
Damit verletzt sie ihre Dienstverpflichtung, die eine Meldung an
die Oberin verlangt. Sie wird noch am selben Tag fristlos
entlassen.
 
Bevor Else stirbt, spricht sie noch wenige Sätze. Dem Arzt im
Krankenhaus habe sie, wie dieser später zu Protokoll gibt,
gesagt: „Herr Doktor, mir ist was Furchtbares passiert; ich bin
mit meiner Freundin bei einem Arzt gewesen und habe dort eine
Tasse Kaffee getrunken, und man hat versucht, mich zu
vergewaltigen.“
Auf die Frage, warum sie aus dem Fenster gesprungen sei, habe
sie geantwortet: „Er hat das Licht ausgemacht und die Tür
verschlossen.“
 
Ottmann wird verhaftet. Man wirft ihm versuchte Notzucht mit
Todesfolge vor.
 
Die Spurensicherung stellt fest: „Unterhalb des Fensters vom
Zimmer des Angeklagten finden sich Schleifspuren im
Hauswandputz, die darauf schließen lassen, dass sich das Opfer
noch eine Zeit lang am Fensterbrett festgeklammert und Halt
gesucht hat.“
Daraufhin werden die Schuhe des Opfers untersucht. An den
Spitzen zeigen sie Abschürfungen.
 
Nun liegt, 158 cm lang, 56 Kg schwer, kalt und steif auf dem
Tisch der Gerichts-Pathologie, worin einmal die lebensfrohe
Else steckte. Oberhalb der Hüfte sind nahezu keine
Verletzungen festzustellen. Darunter kaum ein heiles Organ,
kaum ein ungebrochener Knochen. Freies Blut – alles zerstört.
 
Am 3. Januar 41 wird als Todesursache „Beckenbruch“ genannt.
 
Ottmann bleibt bei Elses selbst gewähltem Sprung durchs
Klofenster. Bis er zuletzt gar nichts mehr sagt.
 
Strafnachricht des Generalstaatsanwalts beim Landgericht Berlin:
„Vorstehend bezeichnete Person ist rechtskräftig verurteilt worden.
Durch Urteil am 10. Juni 1941 wegen Verbrechens gegen §4 der
Volksschädlingsverordnung in Verbindung mit versuchter Notzucht mit
Todesfolge zum Tode.
Die Todesstrafe ist am 24. Oktober 1941, 7:33 Uhr vollstreckt worden.“