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Steffen Friede – oud

An den Rand des Kontinents,
seine östlichste Spange, auf
Amorgos, der einfachen Körper
wegen, der Sicht auf Disteln und
Stein, Ufer und Rundhorizont, der
Elemente wegen, fangender Hitze,
klärendem Wind,
Fruchtwassermeer.
 

13 Stunden Schub der Turbinen von
Aegean Airlines, der Schraube von
Hellenic Seaways, und Ausstoß der
Frachtstücke (aus England,
Frankreich, Athen) zu den Wirten
der Insel vor ihren kleinen Häusern.
 

Abnutzung, Ohrenweh der
Transporter, damit man
morgens in einer
Klangschüssel erwachen kann,
Hähne hört, nahe Käuzchen,
das Knattern einer Fahne bei 8
Beaufort, jeden Ton deutlich
für sich.
 

Auch das Bild ist schärfer ohne
Wolken, ohne Laub. Verkehr
findet hier auf Treppen statt,
zum Blau einer Kuppel hinauf
und dem einer Bucht hinab.
Meist ruht man aus, an den
Dreifuß-Tischen der
Dachterrassen.
 

Der Kopf muss Strahlung
verkraften, Staubfreiheit, das
Wenige ringsum, den Ausblick auf
erdbraune Hügel, Trockenmauern,
einst Stufen für Gemüse, Wein.
Auf dem kahlen Berg sollen Reste
von Minoa sein.
 

Statik, nicht mal ein Vogel kreist.
In weiche Luft gekleidet, um
neun Uhr morgens, um neun Uhr
abends. In den Sprachen Europas
wird leise gesagt, dass Wechsel,
dass Zeit verschwunden sind.
Stattdessen treten wir hervor.
 

Haut dunkelt ein, die Züge glätten
sich, aber so sanft, so ebenmäßig
wie die unserer Versorger werden
sie nicht. Der jetzt Kaffee bringt,
ist tiefer im Bild, schwimmt
später am Tag noch in der
gleichen Bucht.
 

Man sagt: Archaisch,
terminenthoben. Man spricht
vom Rand, vergessen &
verschont. Neben den Tassen
ein winziger Streuer, silbrig
bekuppelt: Zimt. Erneut wird
aus der Karaffe Wasser
nachgeschenkt.
 

Die Athener Saisonkräfte
arbeiten anders auf den
Inseln, nach einem Ideal.
 

Sie wollen christlich und
ohne Hast und schön
bedienen: Teller aus
Schiefer, um eine Spur zu
legen mit weißem
Zucker.
 

Immer der Zweifel unten auf dem
Grund, ob wir nicht uns selber
blenden, Amorgos Ausflucht ist,
bloßes Warten auf den Rückflugtag,
Geschehen, das nicht zählt. – Doch
wenn es nicht um Fakten, wenn es
um Verfeinerung geht? Um Silber,
Gewürz, Karaffen?
 

Tage im Freien. Im Wind, der
aus Norden kommt wie wir und
die Insekten aufs Meer hinaus
treibt, leere Blüten & Stöcke.
Beim Abstieg aus dem Fels
spüren uns Eidechsen, bedrohen
herrenlose Hunde, läuten Ziegen
hinüber.
 

Ständige Öffentlichkeit. Man
muss sich behaupten vor
Männern, die Kartoffelsäcke
schleppen in den Gassen, die
Oliven klopfen, vor der Büglerin
von Laken. Die Inselbewohner
wägen unsere Gestalt: Bist Du am
Gehen – oder wirklich hier?
 

Gleich alles zeigen müssen.
Die Sänger eine starke Brust,
abends im Hafen, um im
hohen Luftraum
durchzudringen.
 

Bei dünner Stimme helfen die
Begleiter und klatschen sie
nach vorn. Das Publikum fällt
ein.
 

Dies Klatschen, erst ruhig, dann
schneller werdend, dann begeistert,
weckt mehrmals kurz vor
Sonnenaufgang, erreicht uns beim
Drehen und Winden im Meer. Es hat
keine feste Stunde, es sendet nur: jetzt,
jetzt, jetzt.
 

Jetzt erhebe ich mich über die
immergleiche Temperatur und
das ewige Reden. Jetzt wechsele
ich in Ausdruck, leichten
Rausch, in eine Musik, an der
jeder mitwirken kann, einfach
mit den Händen.
 

Am Ende nehmen die Pfeifer, Geiger,
Bouzoukispieler das Nachtschiff.
Jemand hat sie hinüber zur
Nachbarinsel bestellt.
 

Ein weiterer Tag ohne Wetter. Die
Aushilfen vom schwarzen Meer haben
die nachtverschmierten Teller
gereinigt. Gerade verjüngen sie die
faltige Wäsche. Die Linie der Hügel
ist geblieben. Wirte setzen sich
morgenblind neben viel zu frühe
Gäste.
 

Ein weiterer Sommer
ohne Jahreszahl,
 

unter dem alten Gesetz. Die
Inselbewohner lassen die
sonderbaren Laute der Fremden
zu: Flackern & Wirrwarr vor
den geweißten Wänden, dafür
ausreichend Münzen für
November bis April.
 

Nur die Jugend, plus die
Saisonkräfte erwarten sich mehr
als Geld. Die Alten sind Stein &
Macchia, die Gäste gespensterhaft,
flüchtig, ein Tosen aus Motoren,
nah am Geheul. Wo ist Harmonie?
 

Die 20-, 30-Jährigen
versuchen es mit erhobenem
Kinn, Stoffen, die fließen,
leichtem Leinen; mit glänzigen
Schuhen, die ihren Weg
beleuchten; mit Schwarzpelz
im Gesicht aus dem sie fest
und sicher sprechen:
 

Europa will immer Fertigung und
vorteilhaften Tausch. Wir haben
Lust, in den Schatten zu laden,
aufs Haus zu geben: Mittags
Melonenwürfel, deren Saft
sickert im Mund, abends Früchte
aus dem Glas, süß und Blut
verdickend.
 

Für die Tischmusik umschiffen wir
Amerika, auf der Suche nach
Tönen, die hinter dem Westen
liegen und uns so wieder näher
rücken. Wir möchten in ein Tal
 

mit geschützter Akustik, das
uns allein gehört, wegbringt von
diesem Athen unter Einfluss.
 

Was auf den Stufen der Insel
geschehen kann, ist Klang. Durch
Fensterläden entweicht die
Violinstimme der Frau, die dem
Sultan erzählt. Im Garten ohne
Gras, von kriechenden
Schläuchen am Leben erhalten,
sitzt ein Vögelchen im Busch und
ruft unbekannt.
 

Es gibt ein Bedürfnis hier am Rand,
sich zu verirren, dem Locken des
Vogels mit dem gelben Bauch zu
folgen, den eigenen Kontinent
unmerklich zu verlassen, nicht in
die Türkei hinüber, doch hinter die
Grenze.
 

Ein winziger Vogel, Geheimnisse in
die Luft schickend; das schleppende
Akkordeon irgendwo in den Gassen,
auf die man vom Kirchplatz oben
hinunterschaut: Klänge, die man
nicht aufsuchte in Konzert- oder
Kinosaal – und dadurch treffen.
 

Wir sind versprengt, ohne
Ausrüstung unterwegs, bloße
Späher, wehrlos gegen das Horn
eines nahenden Frachters, das
losbrüllt und die Insel
erschüttert,
 

gegen all das Gewisper über
byzantinische Landschaft.
 

Aus der Tiefe und warm geblasener Ton, so
langgezogen, dass er sich zu schlängeln
beginnt. Wie haben die Musiker sich in
unseren Rücken gestohlen? Wurden die
Zwei an die Tische bestellt? Wir sehen ein
gelbes Rohr und den Bauch (stark
gedunsen) einer Gitarre, der es an Hals
fehlt.
 

Der Bläser hat Pracht zwischen
den Händen, mindestens
Messing, vielleicht ja Gold. Er
hebt den Klang ruhig durch den
Schatten, die Hauswände hinauf,
biegt ihn zu einer Spirale ein.
Man versäumt darin nichts
mehr.
 

Das Café gleitet in eine
Zeit vor der Zeit. Die
Inhaberin lehnt im
Türrahmen und träumt.
Sogar wir Reisenden
hören auf, zu altern.
 

Und werden mit dem
Einsatz der falschen
Gitarre geschockt. Die
kalt ist, metallisch,
verschmutzt durch
Ober- & Untertöne. Sie
reibt. Sie schrappt.
 

Während das Gold sich in
die Höhe windet, der
Bläser uns mitnimmt in
sein Sehnen, knallen
daneben trocken Saiten. Ist
das Musik? Reißt nicht
eher die Gasse auf?
 

Die Frau in der Tür,
knielanges Kleid,
holzbraune Haut, klopft
mit den Fingern gegen
den Rahmen. Sie scheint
die Missklänge zu
überhören des
ungriechischen
Instruments.
 

Wir fürchten, dass sie zu
sanft, zu großherzig bleibt,
wie allen Fremden gegenüber,
die hier stranden. Denn die
Saiten aus Metall schwingen
kurz, penetrant, wie eine
Maultrommel.
 

Gemisch, Gelärm, das
auch die Schwester auf die
Schwelle holt. Sie nimmt
die gleiche S-Linie ein,
genauso ungerührt vom
Eisenerzregen, der über
den Tischen niedergeht.
Sie schaut hinein.
 

Die Musiker lenken von
sich aus ein und machen
Frieden.
 

Das Rohr mit den vielen
Klappen bläst sachte die
Schäden weg. Ihr Stück
ist in den guten Anfang
heimgekehrt.
 

Bläsersolo. Gelb, Orange,
körperwarme Woge. Sein
Partner stützt das Kinn auf den
prallen Bauch seines
Instruments und lauscht: Erster
Kultur, ersten Städten, feiner
Malerei auf Ton.
 

Die Frauen in der Tür fassen
sich an den Schultern und
drehen sich gegenseitig. Bis –
etwas schwirrt, etwas knallt.
Stäbchen in einer Hand, das an
den Saiten reißt. Böses ahnend,
legen wir Münzen auf den
Tisch.
 

Das Duo steckt seit Tagen hier
fest zwischen Ost und West,
mitten auf seinem Weg zur
Schätzung ihrer Musik, über
Almosen hinaus. Am Ziel
Paris, wo bestimmt eine
Menge Hörer sind, drückt
Freund Anouar jeden ihrer
Anrufe weg.
 

Sie trifft uns in den
Nacken, die Ladung
Metall, die durch
Gewalt über den
Atem obsiegt. Der
runde Mund
 

des Altsaxophons
beklagt sich
umsonst.
 

Wir wollten raschen
Abstand, die Töne
dämpfen, ihnen Macht
über uns entziehen. Doch
gehen langsamer.
Verzögern. Halten ein.
Wenden die Ohren, kehren
zurück.
 

Ins Knäuel. Ins
Kappen.
 

Das Café sitzt
gelähmt, nur die
Musiker beben,
zucken.
 

Die Gasse klafft auf.
Viele Schrägen.
 

Wir verlieren den Blick.
Sehen nur noch Heftigkeit.
 

Rutschen, mitsamt
Amorgos, in Subduktion
und betäubenden Laut.