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Und es schmilzt – Rezension

„Es wird nur noch von Bedeutung sein, dass ich hier gestanden habe, an diesem ersten kalten Tag in einem ansonsten milden Winter.“

So resignierend endet der Roman Und es schmilzt von Lize Spit und zerstört damit mehr oder weniger den letzten Funken Hoffnung auf ein gutes Ende für Eva. Aber zunächst auf Anfang: Der Roman handelt von einer jungen Erwachsenen, die nach Jahren wieder in ihr Heimatdorf zurückkehrt und damit auch zu dem Ursprung ihrer Traurigkeit. Auslöser für ihre Rückkehr ist eine Einladung ihres damaligen Freundes Pim zu einer Gedenk- und Gründungsfeier auf seinem Bauernhof. Vordergründig soll seinem verstorbenen Bruder gedacht werden, in den Eva damals verliebt war, jedoch wird gleichzeitig auch die Einweihung einer neuen vollautomatischen Melkanlage gefeiert – typisch Bauerndorf. Ein Grund für Eva nicht zu gehen, jedoch lässt sie das Bild des Verstorbenen nicht los und sie macht sich auf den Weg – mit einem gekühlten Eisblock im Kofferraum, wofür das gut ist, erfahren wir erst zum Schluss.

Wer denkt, die Haupthandlung würde auf besagtem Bauernhof stattfinden, irrt: Tatsächlich beschäftigt sich der Roman drei Viertel lang mit Rückblenden aus Evas Kindheit. Und während der Eisblock langsam anfängt zu schmelzen, dringt die Geschichte immer tiefer in Evas Trauma ein.

Der Roman ist daher sicherlich nichts für Leser, die von Anfang an Spannung erwarten. Die Geschichte entwickelt sich nämlich erst langsam, bahnt sich der Katastrophe an, aber die Langatmigkeit lohnt sich, da sich am Schluss alle Einzelheiten, die mit schonungsloser Genauigkeit und Präzision erzählt werden, zu einem Mosaik zusammensetzen und Evas Handlungen verstehbar machen.

Der Text schafft es mit 500 Seiten dennoch den Leser einzufangen: Es sind die dunklen Vorahnungen, die düstere Atmosphäre, die verstörenden Einzelheiten, die der Roman auch in den noch scheinbar harmlosen Kindheitserinnerungen vermittelt, ohne zu viel zu verraten.

Doch worum geht es im Kern? Im Fokus liegt Evas komplizierte Freundschaft mit Laurens und Pim, zu denen Eva von Anfang an ein Abhängigkeitsverhältnis verspürt, immer mit dem Wunsch dazuzugehören, einen Platz in der Freundschaft zweier pubertierender Jungs zu haben. Eine weitere wichtige Rolle spielt Evas Familie. Wir erhalten einen erschreckenden Einblick in die Beziehung zu den depressiven Eltern und deren ständigen Vernachlässigungen. In ihrem Elternhaus ist der Suizid ständig präsent, wenn ihr Vater im Schuppen einen Strick anbringt und Eva in dieses Geheimnis einweiht. Wir erfahren auch wie es sich anfühlen kann, in einem Dorf voller Langeweile und mangels Perspektiven und Hilfestellungen erwachsen zu werden. So hat Eva eigentlich niemanden, an den sie sich wenden kann. Auch macht der Roman sehr deutlich, wie grausam Kinder sein können, was sich im letzten Viertel des Romans offenbart, wenn Eva von ihren vermeintlichen Freunden brutal misshandelt und vergewaltigt wird.

Insgesamt muss festgehalten werden, dass der Roman definitiv nichts für schwache Nerven ist. Dadurch, dass sich die dramatische Katastrophe so langsam anbahnt und bei der Beschreibung des Geschehens keine Details ausgespart werden, wird der Leser tief geschockt. Damit steht auch das Cover des Buches jeglichen Erwartungen entgegen: Die Blümchen und hellen Farben bilden einen Kontrast zu der Grausamkeit, die sich gegen Ende immer mehr zuspitzt.

Das offene Ende hinterlässt noch einen Funken Hoffnung, es besteht die Möglichkeit, dass Eva noch gefunden wird, bevor das Eis schmilzt. Und irgendwie hofft man, dass sie die Erlebnisse aufgeschrieben hat, dass ihre Motive am Ende nicht nur für den Leser offenkundig werden, sondern für das gesamte Dorf, das Eva im Stich ließ.

Rezension von
Miriam Becker