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„Leinsee“ von Anne Reinecke – Rezension

„[…] das ist doch eine ganz falsche Vorstellung, dass ein Kind unbedingt zu seinen Eltern gehört! […] Eltern, die ihre Kinder nicht loslassen, tun das um ihrer selbst willen. Das hat nichts mit Liebe zu tun. Kinder sind nicht dazu da, dem Leben der Eltern einen Sinn zu geben.“


Leinsee von Anne Reinecke ist ein Roman, dessen Inhalt dunkel und grau ist und doch farbenfroh erzählt wird. Die Geschichte dreht sich um Karl, Sohn eines berühmten und umschwärmten Künstlerpaares, der nach jahrelangem Kontaktabbruch zu seinen Eltern in seine Heimat zurückkehrt, da sein Vater Selbstmord beging und seine Mutter an einem lebensbedrohlichen Hirntumor leidet. Während Karl die komplizierte Beziehung zu seiner Mutter, die ihn für ihren Ehemann hält, wiederaufarbeitet, lernt er Tanja, ein achtjähriges Mädchen kennen, die seinem Leben wieder Freude schenkt.


Die Geschichte ist nahezu getränkt in Farben, Eindrücken und Bewusstseinsströmungen, die uns die Hauptfigur Karl vermittelt. Karl ist ebenso wie seine Eltern Künstler, daher sind es Farben, wenn auch zum Teil ausgedachte, die den Leser durch die Geschichte leiten. So beginnt jedes Kapitel mit einer Farbe als Sinneseindruck, die den Leser auch schon mal schmunzeln lässt, wenn das erste Kapitel beispielsweise lautet: Kanarienvogelgelb und silbern, was metaphorisch seine Übelkeit auf dem Weg in die Heimat – den Anruf abwartend, dass seine Mutter die OP nicht geschafft hat und erbrechend über eine ICE-Toilettenschüssel gebeugt – beschreibt.


Die sprachliche Gestaltung des Romans schafft es den Leser durch dieses komplizierte Beziehungsgeflecht und die zahlreichen Konflikte des Protagonisten zu führen. Sie ist außerdem von zahlreichen elliptischen Gedankenfetzen, die sein Gefühlschaos beschreiben, aber auch von vielen Aneinanderreihungen von parataktischen, gleichlautenden Sätzen, die wiederum die ruhige Atmosphäre der idyllischen Heimat am Leinsee ausstrahlen, geprägt.


Hauptschwerpunkt neben der achtjährigen Tanja ist das komplizierte Verhältnis zu seinen Eltern. Von den Eltern in ein Internat abgeschoben, eine neue Identität annehmen müssend, unwahrgenommen und keinen Platz in der symbiotischen Beziehung von „Ada und August, August und Ada“ findend, kapselt er sich schlussendlich ab, schreibt seinen Eltern nicht mehr und verfolgt ihr Leben nur noch durch den Fernseher. Die Entfremdung zu seinen Eltern geht sogar so weit, dass er sich nicht mehr an das Gesicht seines Vaters erinnern kann.


In Leinsee angekommen, wird ihm mitgeteilt, dass seine Mutter doch überlebt hat. Jedoch kann sich Ada nicht mehr an ihren Sohn erinnern, stattdessen hält sie ihn für ihren Mann. Karl, der nun endlich Adas volle Aufmerksamkeit und Liebe erfährt, lässt sie in dem Glauben, sodass sich zwischen ihnen eine leicht ödipale Beziehung entwickelt.


Karl lernt währenddessen die achtjährige Tanja kennen. Sie taucht plötzlich in seinem Garten im Kirschbaum hockend auf – ab diesem Zeitpunkt ist sie ein selbstverständlicher Bestandteil seines Lebens. Sie gibt ihm Freude und neue Lebenskraft, strukturiert seinen Tag und tut ihm gut. Seine Sehnsucht nach der verlorener Kindheit, Geborgenheit und Heimat spiegelt sich in der kindlichen Beziehung zu Tanja wieder. Tanja sieht und beobachtet ihn im Gegensatz zu seinen Eltern – er genießt es, sich ihre Blicke in seinem Rücken vorzustellen. Als er später ein zweites Mal nach Leinsee zurückkehrt und Tanja älter ist, verlieben sie sich. Von Anfang an jedoch ist klar, dass ihre Beziehung nicht an die Öffentlichkeit darf und sie nur auf Zeit läuft. Schlussendlich lässt er Tanja gehen, was ein bewegender Moment ist, der verdeutlicht, dass Karl und Tanja nicht wie Ada und August sind, sie durchbrechen die Symbiose.


Interessant an der Figur Karl ist, dass er immer jemanden an seiner Seite braucht, eine Konstante, die sein Leben strukturiert und lenkt: Die Eltern haben ihn quasi von sich gestoßen, daher übernimmt diese Funktion erst seine feste Freundin Mara, die alles für ihn managed und kontrolliert, dann Tanja, die ihm volle Aufmerksamkeit, Zuneigung und kindliche Unbeschwertheit schenkt, dann sein Verleger, der für Karl alles organisiert, und schlussendlich wieder Tanja.


Der Roman thematisiert aber auch den Konflikt eines Künstlers: Karl will unabhängig vom Namen seiner Eltern sein, nach ihrem Tod wird er aber als ihr Erbe bekannt und seine Werke verkaufen sich wie von selbst. Während er als Künstler immer begehrter wird, lässt seine künstlerische Arbeit und Leidenschaft immer weiter nach, das frustriert ihn. Erst bei seiner zweiten Rückkehr nach Leinsee lebt seine Leidenschaft zur Kunst wieder auf. Dementsprechend ist dieser Roman beim genauen Lesen weitaus vielschichter als zunächst angenommen.


Insgesamt ist der Roman erzähltechnisch unglaublich gut geschrieben, auch die Entwicklung der Charaktere ist gut nachvollziehbar. Allerdings fällt es ein wenig schwer mit Karl mitzufühlen und sich mit ihm zu identifizieren, da seine Sichtweise teilweise erstaunlich trocken berichtend und weniger emotional wertend beschrieben wird, was einen Kontrast zu den traurigen Erlebnissen darstellt. Vielleicht ist es aber auch genau diese Distanz des Erzählens, die den Roman besonders macht.


Rezension von
Miriam Becker