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Thomas Hettches „Pfaueninsel“: Was ist in der Nussschale?

In seinem neusten Roman entführt Thomas Hettche in die geheime, (sur)reale Welt der Havelinsel.

Waren Sie schon einmal auf der Pfaueninsel? Nein? Nun, nach der Lektüre von Thomas Hettches „Pfaueninsel“ (2014) werden Sie das Gefühl haben, dort gewesen zu sein. Lange. Nicht weniger als die rund 80 Lebensjahre der Maria Dorothea Strakon.
„Marie, geboren mit dem Jahrhundert“ kommt 1806 gemeinsam mit ihrem Bruder Christian auf die Pfaueninsel und wird dort Schlossfräulein. Wie die glückliche und märchenhafte Rettung vom eigenen Dasein erscheint dem kleinen Mädchen die Aufnahme in die Welt des Preußischen Adels, ist sie doch, genau wie ihr Bruder, kleinwüchsig und ihr Leben als „Zwergin“ und „Monster“ damit verhängnisvoll prädestiniert.


Hettches Roman schafft ein literarisches Abbild der Havelinsel und verwischt die Grenze zwischen Fiktion und Historizität dabei auf betörende Weise. Betörend, da Hettche die Kulisse seines Epochen- oder historischen Romans, vor allem aber seiner Liebesgeschichte, nicht nur ausführlich, sondern geradezu sinnlich beschreibt. Die auf ausführlicher Recherche beruhende detaillierte Schilderung der Insel und ihrer Gärten, ihrer Bewohner und Besucher, Flora und Fauna und alchemistischer Magie, macht das Lesen zu einem intensiven Erlebnis.

In 80 Jahren verlässt Marie die Insel nur ein einziges Mal. Die Tatsache, dass der Roman nur einen (wenngleich vielseitigen und sich stets wandelnden) Schauplatz hat, tut der Geschichte aber keinen Abbruch, sondern entpuppt sich als seine große Stärke. Denn keineswegs wird Maries Insel zu einer Parallelwelt, an der das 19. Jahrhundert unbemerkt vorüber geht. Stattdessen kommt die Welt in Form von Literatur und scheinbar unausweichlichen Moderneerscheinungen zu ihr: technische Errungenschaften wie Wasserpumpen und Dampfloks; exotische Tiere aus der sich globalisierenden Welt; sogar Peter Schlemihl, der von der Gesellschaft so verstoßen ist, dass nur die ewige Ferne sein Zuhause sein kann.


Überhaupt wird von Chamissos schattenloser Naturkundler Maries Geistesverwandter und Gegenbild, der auf die Unfähigkeit, in die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts integriert zu werden, eine andere Antwort findet als seine zwergartige Freundin: während Schlemihl der bürgerlichen Welt entkommt, indem er überall und nirgendwo lebt, ist Maries Heimat mit den Ufern der Havel fest umrissen und geschützt. Trotzdem erscheint Maries Insel dabei nie zu eng und klaustrophobische Beklemmung bleibt aus. Denn eigentlich findet sich auf der Insel all das, was auch den Rest der Welt ausmacht. Die nicht perfekte, da kleinwüchsige Marie und ihre zur botanischen Perfektion verformte Insel zeigen die berühmte Welt in der Nussschale.


Rezension von
Maike Baier