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3. Ausgabe – Präsenz

Editorial

Der Untertitel dieser Ausgabe ist erkennbar ein Titat aus Susan Sontags Essay „Against Interpretation“. Dieses ihren Essay zusammenfassende Zitat ist allerdings seiner ersten Hälfte beraubt, denn eine „Erotik der Kunst“ bringt Sontag gegen eine „Hermeneutik der Kunst“ in Stellung. Für den Titel dieser Ausgabe ist der zur Erotik oppositionelle Begriff Hermeneutik aber herausgenommen worden, denn ohne jede Hermeneutik, ohne jedes Interpretieren können die literarischen und künstlerischen Beiträge nicht angemessen wahrgenommen werden – und dies gilt für jedweges Verstehen.
Der im Titel statt dessen dominant platzierte Begriff „Präsenz“ ist nun seinerseits eine Anleihe bei Hans Ulrich Gumbrecht. Er bezeichnet mit ihm eine ästhetische Erfahrung, die in besonderen Augenblicken fokussierter Intensität besteht und die auch immer ein sinnliches Verhältnis zum Körper besitzt. Präsenz artikuliert sich beispielsweise in Stimmungen, die die Kraft besitzen, vorreflexiv unseren Körper zu affizieren wie beispielsweise Musik, das Wetter oder bestimmte Räume […]

 

 

Inhalte der 3. Ausgabe
Texte

 

Emine Sevgi Özdamar – Prolog

Ingrid Bachér – Abraum

Jan Wagner – die regel

Alexander Schimmelbusch – Fünf

Ryo Kikuchi – An den Gelehrten

 

Interviews

 

Hans Ulrich Gumbrecht – Rückkehr zu sinnlicher Erfahrung

 

Bilderstrecken

 

Meral Alma – Faces

Gillian Hyland – Words left unspoken

Olaf Köster – Fotografien zu Abraum

Joann Sfar – Tollhaus Kischinew

David Schermann – INSOMMIA

 

Weitere

 

Übersetzt: Koan. Japanische Dichtung des Zen-Buddhismus

Kawai Severin übersetzt Clemens J. Setz Gedicht Motte in Gebärdensprache

Schrecken ohne Ende. Ein Essay.

Ein anderes Amerika? Sammelrezensionen

Rezensionen

Literaturwettbewerb TEXT+BILD 2018

Die Redaktion empfiehlt

Fakten

 

Text+Bild Ausgabe 3

 

Wettbewerbssiegertexte

 

Platz 1. Steffen Friede – oud

 

An den Rand des Kontinents, seine östlichste Spange, auf Amorgos, der einfachen Körper wegen, der Sicht auf Disteln und Stein, Ufer und Rundhorizont, der Elemente wegen, fangender Hitze, klärendem Wind, Fruchtwassermeer.

 

13 Stunden Schub der Turbinen von Aegean Airlines, der Schraube von Hellenic Seaways, und Ausstoß der Frachtstücke (aus England, Frankreich, Athen) zu den Wirten der Insel vor ihren kleinen Häusern.

 

Abnutzung, Ohrenweh der Transporter, damit man morgens in einer Klangschüssel erwachen kann, Hähne hört, nahe Käuzchen, das Knattern einer Fahne bei 8 Beaufort, jeden Ton deutlich für sich.

 

Auch das Bild ist schärfer ohne Wolken, ohne Laub. Verkehr findet hier auf Treppen statt, zum Blau einer Kuppel hinauf und dem einer Bucht hinab. Meist ruht man aus, an den Dreifuß-Tischen der Dachterrassen.

 

Der Kopf muss Strahlung verkraften, Staubfreiheit, das Wenige ringsum, den Ausblick auf erdbraune Hügel, Trockenmauern, einst Stufen für Gemüse, Wein. Auf dem kahlen Berg sollen Reste von Minoa sein.

 

Statik, nicht mal ein Vogel kreist. In weiche Luft gekleidet, um neun Uhr morgens, um neun Uhr abends. In den Sprachen Europas wird leise gesagt, dass Wechsel, dass Zeit verschwunden sind. Stattdessen treten wir hervor.

 

Haut dunkelt ein, die Züge glätten sich, aber so sanft, so ebenmäßig wie die unserer Versorger werden sie nicht. Der jetzt Kaffee bringt, ist tiefer im Bild, schwimmt später am Tag noch in der gleichen Bucht.

 

Man sagt: Archaisch, terminenthoben. Man spricht vom Rand, vergessen & verschont. Neben den Tassen ein winziger Streuer, silbrig bekuppelt: Zimt. Erneut wird aus der Karaffe Wasser nachgeschenkt.

 

Die Athener Saisonkräfte arbeiten anders auf den Inseln, nach einem Ideal.

 

Sie wollen christlich und ohne Hast und schön bedienen: Teller aus Schiefer, um eine Spur zu legen mit weißem Zucker.

 

Immer der Zweifel unten auf dem Grund, ob wir nicht uns selber blenden, Amorgos Ausflucht ist, bloßes Warten auf den Rückflugtag, Geschehen, das nicht zählt. – Doch wenn es nicht um Fakten, wenn es um Verfeinerung geht? Um Silber, Gewürz, Karaffen?

 

Tage im Freien. Im Wind, der aus Norden kommt wie wir und die Insekten aufs Meer hinaus treibt, leere Blüten & Stöcke. Beim Abstieg aus dem Fels spüren uns Eidechsen, bedrohen herrenlose Hunde, läuten Ziegen hinüber.

 

Ständige Öffentlichkeit. Man muss sich behaupten vor Männern, die Kartoffelsäcke schleppen in den Gassen, die Oliven klopfen, vor der Büglerin von Laken. Die Inselbewohner wägen unsere Gestalt: Bist Du am Gehen – oder wirklich hier?

 

Gleich alles zeigen müssen. Die Sänger eine starke Brust, abends im Hafen, um im hohen Luftraum durchzudringen.

 

Bei dünner Stimme helfen die Begleiter und klatschen sie nach vorn. Das Publikum fällt ein.

 

Dies Klatschen, erst ruhig, dann schneller werdend, dann begeistert, weckt mehrmals kurz vor Sonnenaufgang, erreicht uns beim Drehen und Winden im Meer. Es hat keine feste Stunde, es sendet nur: jetzt, jetzt, jetzt.

 

Jetzt erhebe ich mich über die immergleiche Temperatur und das ewige Reden. Jetzt wechsele ich in Ausdruck, leichten Rausch, in eine Musik, an der jeder mitwirken kann, einfach mit den Händen.

 

Am Ende nehmen die Pfeifer, Geiger, Bouzoukispieler das Nachtschiff. Jemand hat sie hinüber zur Nachbarinsel bestellt.

 

Ein weiterer Tag ohne Wetter. Die Aushilfen vom schwarzen Meer haben […]
 

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Platz 2. Martin Peichl – Nach der Landung

 

Beim IKEA-Kasten-Zusammenschrauben und Zusammenhämmern und
Aufstellen darüber nachgedacht, warum ich keine Kinder will, eine
Liste erstellt mit Namen, die ich meinen nicht vorhandenen Kindern
auf keinen Fall geben würde, eine lange Liste, während ich mit dem
Hammer die Nägel ins Holz treibe, während ich mit dem
Schraubenzieher in der einen und einer halbleeren Bierdose in der
anderen Hand beim Fenster rausschaue, schon wieder Regen, und ich
frage mich, wann ich angefangen habe, aus dem Fenster zu schauen,
über 30 Jahre lang war ich kein Aus-dem-Fenster-Schauer und jetzt
fange ich auf einmal an damit, habe nie verstanden, warum mein Vater
in der Nacht oft lange am Fenster gestanden ist, was er da gesucht
hat, will ich wissen.

 

Ich mache mir ein neues Bier auf, ich baue die Schubladen zusammen,
schraube sie in den Kasten hinein, fluche, weil mir die Schrauben
aus den Fingern rutschen, mehr Schubladen für die Dinge, die sich
angesammelt haben, die irgendwann in meinen Besitz gewandert sind,
finde beim Herumräumen ein Foto, das du mir geschenkt hast, ein Foto
der Kosmonautin Walentina Tereschkowa, die erste Frau im Weltraum,
die einzige Frau in der Raumfahrtgeschichte, die alleine und ohne
männliche Begleitung geflogen ist, zwei Tage, 22 Stunden und 50
Minuten. Ihr Funkrufname: Möwe. Eine Möwe im Weltraum, hast du auf
die Rückseite des Fotos geschrieben.

 

Es gibt hartnäckige Gerüchte, dass sie bei der Landung das
Bewusstsein verloren habe, dass sie ins Krankenhaus gebracht worden
sei, dass am Tag darauf die Szene nach der Landung fürs Fernsehen
nachgespielt worden sei, Gerüchte, die wahrscheinlich ihre
männlichen Kollegen in die Welt gesetzt haben. Mittlerweile hat man
einen kleinen Krater auf der Mondrückseite nach ihr benannt. […]
 

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3. Platz Detlef Seydel – Linie 73

 

Else und Charlotte sind am Alexanderplatz in die Linie 73
eingestiegen. Die hält auch am Haus Prenzlauer Allee 88.
Dort werden die beiden gleich erschrocken aussteigen.
Sie waren tanzen in den „Weinterrassen Friedrichstraße“ und
hätten die 71 nach Weißensee nehmen sollen, zum
Schwesternhaus des Städtischen Krankenhauses.
Es ist Freitag, der 27. Dezember 1940, kurz nach 23 Uhr und
wenig Licht in den Straßen.

 

Else Kley war damals 26 Jahre alt, geboren am Hunsrück.
Charlotte Gurt, 21, stammt aus Pniewy bei Posen .
So steht es in der Kriminalakte, die im Landesarchiv Berlin aufbewahrt
wird.

 

Schräg hinter den Krankenschwestern sitzt Polizeireservist
Ottmann und neben ihm Gefreiter Höher.

 

Ottmann, 32, Mitglied der NSDAP, im Kommando der Schutzpolizei
Berlin, momentan bei der Staffel Danzig in Dienst, hat Urlaub bis zum 2.
Januar. Höher, sieben Jahre jünger, Infanterie Regiment 50 in
Fallingbostel, macht Urlaub in Berlin.

 

Ottmann und Höher waren zum Schwofen in „Mundts Ball-
Saal“.
Ottmann sieht gut aus in seiner Uniform – vertrauenswürdig.
Das weiß er. Das spiegelt sich in Gesicht und Gestik.
Nun sitzen die beiden in derselben Linie 73 wie die zwei
Krankenschwestern. Und Ottmann schmiedet Pläne, in denen
die Frauen eine Rolle spielen.
Bald wird er aussteigen, weil das Haus erreicht ist, in dem noch
ein Zimmer für ihn reserviert ist, in der Wohnung seiner Mutter,
in der sie mit ihrer ältesten Tochter lebt.
Als die vier in der Kälte stehen, glaubt Ottmann aus dem Gerede
der Frauen etwas wie „falsche Linie“ herauszuhören.
Ottmann bietet Hilfe an.
Die Ältere reagiert: „Wir müssen nach Weißensee.“ Ottmann
sagt: „Von hier zur 71 ist wie von Afrika zum Nordpol.“
Charlotte jammert, ihre Oberin sei streng.
Höher tritt von einem Bein aufs andere, um nicht anzufrieren.
„Kommt“, Ottmann zeigt zum dritten Stock, „es gibt warmen
Kaffee. Und auch Kuchen.“
Die Frauen sehen sich an. Charlotte will nicht. Else blickt auf
Ottmanns Polizeiuniform und hakt Charlotte unter.
Sie schlurfen über die Straße, den Männern nach. Im Hausflur
springt das Licht nicht an. Erst im zweiten Stock brennt es.
Am Türrahmen liest Else, bei wem sie gleich Kaffeetrinken wird:
„Dr. Ottmann“. Sie weiß nicht, dass das der vor Jahren
verstorbene Vater ist, ein Jurist und Privatgelehrter […]
 

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